Ivna Žic
Wahrscheinliche Herkünfte

                        


                        Die Sprache bezahlen wir mit nichts anderem als mit der Sprache.
                                                                                                               Florjan Lipuš

Als meine Eltern im Sommer vor einem Jahr ihre Zürcher Wohnung, in der ich aufgewachsen, wo ich ausgezogen und in die ich immer wieder zurückgekehrt war —, als sie diese im Sommer vor einem Jahr räumten, um nach Zagreb zu ziehen, verbrachte ich mehrere Tage mit ihnen dort, um durch alle Sachen zu gehen und gemeinsam zu entscheiden: Brauchen wir das noch, brauchen wir es nicht, und wenn wir es brauchen, wo kommt es hin: Nach Zagreb? Zu mir nach Wien? Bleibt es bei meinem Bruder in Zürich? Oder brauchen wir es schlussendlich doch nicht mehr?

Im Zuge dieses großen Umzugs stand ich häufig für mehrere Stunden mit meiner Mutter im Keller, wo wir Kindheitskisten öffneten und Papier um Papier, Zeichnung um Zeichnung, Erinnerung um Erinnerung aus Kindergarten und Schulzeit, bis dahin akribisch aufbewahrt, in die Hand nahmen, anschauten, besprachen, und schließlich vor der Entscheidung standen, ob es weiterhin aufbewahrt werden sollte oder ob die Erinnerung mittlerweile an Wert verloren hat?

Unter diesen Funden befand sich auch das erste „Buch“, das ich geschrieben hatte, oder eines der ersten, denn das Zeichnen und das Schreiben waren für das Kind, das ich war, eine ähnliche Bewegung. Eine, die ich gerne machte. Ich zeichnete mich damals an die gehörte Welt heran und an die Schriftzeichen in Buchstabenbüchern. Ich nahm sie als Vorlage, als Möglichkeit, die wandelbar war. Es fiel mir leicht, so zu erzählen, es war notwendig und scheinbar sehr klar, so dass ich „Bücher“ schrieb in und mit allen Sprachen, die ich mit mir trug, und mit all ihren Klängen.

Das gefundene Buch besteht aus mehreren gefalteten A5-Seiten, die in der Mitte mit Heftklammern zusammengefasst sind. Auf allen Seiten ist zunächst in der oberen linken Ecke ein Punkt ersichtlich, ein feiner Punkt, den meine Mutter jeweils mit einem Bleistift gemacht hatte, um mir zu zeigen, auf welcher Seite des Blattes ich losschreiben sollte. Ich sage sollte, weil ich mich selten daran hielt und häufig doch von rechts nach links schrieb. Es war die einfachere Schreibart, denn ich schreibe mit der linken Hand, und wie es für Menschen, die mir der rechten schreiben, leicht von links nach rechts geht, so ist es für Linkshänder von rechts nach links zunächst zugänglicher als umgekehrt.

Das Nächste, was auffällt, sind die tanzenden Buchstaben, die, ohne Kontinuität oder innere Logik, mal links-, mal rechtsrum geschrieben sind. Immer in Großbuchstaben. Ich muss sechs oder sieben Jahre alt gewesen sein, noch vor der Einschulung, denn dort wurde dann alles, was ich hier beschreibe, zurechtgerückt.


https://www.matthes-seitz-berlin.de/buch/wahrscheinliche-herkuenfte.html?lid=1

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